Deutsche V1 und V2 Vergeltungswaffen auf dem Cotentin

Ein häufig nicht wahrgenommenes Kapitel der Schlacht in der Normandie ist die Tatsache, dass die Halbinsel Cotentin ab dem Sommer 1943 eine wichtige Rolle in den deutschen Planungen für den Einsatz der neuen Vergeltungswaffen V1 und V2 gegen das Vereinigte Königreich spielte.

Im Spätsommer 1943 begann die Organisation Todt unter Anleitung und Aufsicht des Sonder-Pionier-Stabes Berger der 7. Armee mit dem Bau von 8 V1-Stellungen im Nordteil des Cotentin. Von diesen Stellungen aus sollte der Fernkampf gegen die Städte Bristol, Exeter, Plymouth und Cardiff im Südwesten des Vereinigten Königreiches eröffnet werden. Aufgrund ihrer vorgeschobenen Lage war die Halbinsel Cotentin geradezu ideal geeignet, um auch in der Basse-Normandie (bestehend aus den Departements Calvados, La Manche und Orne) Abschussstellungen für die V1 (Fieseler Fi 103) zu errichten.

Der mit einer Reichweite von 250 – 300 km, einer Höchstgeschwindigkeit von 645 km/h und einer Sprengladung von circa 830 kg ausgestattete, unbemannte Flugkörper war der große Hoffnungsträger Hitlers und der deutschen Generalität. Mit dieser Wunderwaffe sollte die Zivilbevölkerung in den großen Städten im Süden Englands ab dem Dezember 1943 unter Beschuss genommen (Vergeltungsangriffe als Reaktion auf die im Jahre 1943 intensivierten Bombardierungen deutscher Städte) und damit Premierminister Winston Churchill und das Vereinigte Königreich in die Knie und zum Kriegsaustritt gezwungen werden.

Der Brandbombenangriff der RAF auf Lübeck am 28./29. März 1942 hatte Hitler und die Führung der Luftwaffe dazu veranlasst, sich näher mit der Flugbombe Fi 103 auseinanderzusetzen. Als Reaktion auf die Bombenangriffe der RAF auf deutsche Städte befahl Adolf Hitler Mitte April 1942, den Luftkrieg gegen England dahingehend zu intensivieren, dass zukünftige Bombardements eine möglichst große Wirkung auf das öffentliche Leben und die Zivilbevölkerung mit sich bringen würden. Es sollten vor allem Industrieanlagen und Häfen, aber auch Städte ins Visier genommen werden. Anlässlich dieser Weisung griffen in den folgenden Wochen deutsche Bomberverbände im Rahmen der Operation „Baedecker“ Städte wie Exeter, Bath, Norwich, York und Canterbury an. Die Verluste unter den eingesetzten deutschen Bomberstaffeln waren jedoch weitaus höher als erwartet. Hitlers Konzept, britische Angriffe mit Gegenangriffen zu kontern, drohte zu scheitern.

Am 19. Juni 1942 befahl daher Generalfeldmarschall Milch, als Generalluftzeugmeister der Luftwaffe für die technische Entwicklung und Rüstungsproduktion der Luftwaffe verantwortlich, die Entwicklung des Flugkörpers Fi 103, der später als V1 bzw. aus Geheimhaltungsgründen auch Flakzielgerät 76 (76 FZG) bzw. Maikäfer (aufgrund des tiefen Brummens der Flugbombe während dem Flug, der an das Insekt erinnerte) genannt wurde. Am 29. Mai stimmte Hitler dem zukünftigen Einsatz der Flugbombe Fi 103 zu. In den folgenden Monaten arbeiteten die Firmen Fieseler und Argus fieberhaft an der Entwicklung dieser neuen Wunderwaffe, der erste Start erfolgte bereits im Dezember 1942. Obwohl das Gerät noch inmitten wissenschaftlicher Versuche und industrieller Erprobung steckte, sollte es innerhalb kürzester Zeit zu einer einsatzfähigen und militärisch wirkungsvollen Waffe entwickelt werden.

Zu diesem Zweck sollte ein Lehr und Erprobungskommando aufgestellt werden, das zu einem späteren Zeitpunkt in ein reguläres Regiment umgewandelt werden sollte. Ende 1943 sollte diese Einheit einsatzfähig sein und in den vorgesehenen Stellungsraum in Nordfrankreich verlegt werden. Im April 1943 wurde Oberst Max Wachtel befohlen, das Lehr und Erprobungskommando W/8 aufzubauen, das in den folgenden Monaten in Peenemünde-West, der Erprobungsstelle der deutschen Luftwaffe, die neue Waffe testen und zur Einsatzreife bringen sollte. Das Lehr- und Erprobungskommando W/8 wurde mit Befehl vom 13. August 1943 in das Flak-Regiment 155 (W) überführt, das ebenfalls von Oberst Wachtel geführt wurde.

Zeitgleich mit der Aufstellung des Flak-Regimentes 155 (W) wurden an der französischen Kanalküste mögliche Einsatzräume in einem Radius von 250 km Entfernung von London erkundet, um innerhalb dieses Perimeters möglichst viele geeignete Standorte für den Bau der V1 Abschussbasen zu identifizieren. Gesucht wurden Waldschneisen, Mulden und andere geeignete Plätze, deren Achse auf London ausgerichtet war. Nach Identifizierung von rund 100 geeigneten Standorten begann die Organisation Todt mit rund 40.000 Franzosen und Fremdarbeiten mit den Bauarbeiten im August 1943.

Bereits kurz nach dem Beginn der Bautätigkeiten im Einsatzraum des Pas de Calais hatte die französische Widerstandsbewegung über die auffällige Zunahme der Bauarbeiten im Landesinneren an ihre Verbindungsstellen im Vereinigten Königreich berichtet. Zunächst war Ziel und Zweck dieser neuen Anlagen für die Aufklärung der Alliierten jedoch nicht erkennbar. Erst als Ende August 1943 eine vom Test- und Versuchszentrum in Peenemünde abgefeuerte V1 auf der dänischen Insel Bornholm zerschellte und die von dänischen Widerstandskämpfern gemachten Fotos der Wrackteile in England eintrafen und ausgewertet wurden, begann das sogenannte Joint Intelligence Committee (JIC), die der deutschen Abwehr vergleichbare Organisation der Alliierten, zu ahnen, wie weit die Deutschen bereits mit ihren Forschungen zu unbemannten Fernwaffen fortgeschritten waren. Bis November 1943 hatten dann britische Aufklärer zahlreiche Fotos der Versuchsanlage Peenemünde geschossen, auf einigen Aufnahmen waren eine Startrampe zu sehen, auf der sich ein einem kleinem Flugzeug ähnelnder Flugkörper befand. Darüber hinaus waren Gebäude zu erkennen, die in ihrer Form den auf dem Cotentin und im Pas de Calais fotografierten Bauwerken verblüffend ähnelten.

Es handelte sich hierbei um die Aufbewahrungsgaragen für die V1 Waffen, circa 80 m langen, schmalen Gebilden, die am Ende an ihrer offenen Seite gekrümmt waren und daher auf den Luftaufnahmen an ein J oder auch an einen Ski erinnerten (sogenannte Skibunker). Das offene Ende dieser Skibunker war gekrümmt, um die im Inneren aufbewahrten V1-Flugkörper vor Druckwellen und Bombensplittern bzw. bei Tieffliegerangriffen vor Bordwaffenbeschuss zu schützen. Auch die rund 48 m lange Abschussrampe war aus der Luft klar zu erkennen.

Nachdem nun Anfang November 1943 das Geheimnis um die neuen Stellungsbauten gelüftet war (75 Anlagen waren im Pas-de Calais und sieben Abschussstellungen auf dem Cotentin ausgemacht worden), begannen angloamerikanische Bomberverbände noch im November 1943 mit der systematischen Bombardierung der erkannten Stellungen.

Geplante Startpositionen der Vergeltungswaffen
Geplante Startpositionen der Vergeltungswaffen

Ab September 1943 wurden für die V1 Vergeltungswaffe  Abschussbasen im Pas de Calais und im Nordteil der Halbinsel Cotentin errichtet. Während vom Pas de Calais auf London gefeuert werden sollte, sollten die auf dem Cotentin stationierten Flugkörper südenglische Städte unter Beschuss nehmen.

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