Graignes

Um den kleinen und wenig bekannten Ort Graignes wurde zwischen dem 10. und 12. Juni 1944 heftig gefochten, fehlgelandeten US-Fallschirmjägern der 82nd und 101st Airborne Division standen deutsche Einheiten, einigen Quellen nach ein Panzergrenadier-Regi- ment der 17. SS-Panzergrenadier-Division, gegenüber. Nach dem Ende der Kämpfe töteten deutsche Soldaten mindestens 24 zum Teil schwer verwundete amerikanische Fallschirm- jäger und vermutlich auch 32 Bewohner des Dorfes, denen Unterstützung der Amerikaner zum Vorwurf gemacht worden war.

In der Nacht zum 6. Juni 1944 wurden 12 Sticks (ein Stick sind jeweils 19 Mann) Fall- schirmjäger des 3rd Battalion, 507th Parachute Infantry Regiment, bzw. des 501st PIR, 101st Airborne Division, irrtümlicherweise über der Marschlandschaft um Graignes abge- setzt. Zielgebiet des 3rd Battalion, 507th PIR, war eigentlich die Absprungzone T bei Amfre- ville, 22 Km nordwestlich von Graignes.

Bis zum Abend des 7. Juni waren 182 fehlgeleitete Fallschirmjäger, darunter 12 Offiziere, in Graignes eingetroffen (darunter 147 Männer des 507th PIR sowie 21 Männer des 501st PIR). Als ranghöchster Offizier übernahm Major Charles D. Johnston das Kommando. Da sich die Amerikaner tief in Feindesland befanden und ein Durchbruch zu den eigenen Linien durch das unwegsame und von zahlreichen Wasserkanälen durchzogenen Sumpf und Marsch- gebiet in Richtung Norden (Carentan) als sehr riskant wenn nicht gar unmöglich einge- schätzt worden war, entschied Major Johnson, in Graignes zu bleiben, den Ort zu vertei- digen und auf baldigen Entsatz zu hoffen. Die Einwohner von Graignes entschieden in einer von Bürgermeister Alphonse Voydie einberufenen Versammlung einstimmig, die US-Fall- schirmjäger zu unterstützen und zu versuchen, sie täglich mit zwei warmen Mahlzeiten zu versorgen. Außerdem wollte man ihnen beim Einsammeln der in der Umgebung an Fall- schirmen abgeworfenen Waffen und Munitionscontainer helfen.

Die Frauen des Dorfes begannen sofort damit, rund um die Uhr zu kochen, keine leichte Angelegenheit in dem von Lebensmittelknappheit betroffenen Ort. Die Besitzerin des einzigen Cafes und Lebensmittelladens im Ort, Madame Germaine Boursier, richtete in ihrem Bewirtungsraum eine Art Verpflegungsstelle ein. Andere Einwohner sammelten mit Pferdekarren Waffen und Muniton ein, die sie den Fallschrimjägern brachten. In den nächsten Tagen näherten sich immer wieder kleinere deutsche Patroullien den von den Amerikanern um die Ortschaft errichteten Verteidi- gungsparameter, in kurzen Gefechten gelang es den Fallschirmjägern aber jedes Mal, die Angriffe der Deutschen abzuweisen. Ein Stoßtrupp unter Lieutenant Francis E. Naughton wurde in Richtung Norden ausgesandt, um eine in 2 Km Entfernung über den Vire-Taute Kanal führende Brücke zu sprengen (D 89), um zumindest aus dieser Richtung keine Angriffe mehr befürchten zu müssen. Nach der erfolgreichen Sprengung der Brücke, die Sprengung erfolgte vor den Augen einer aus Richtung Carentan anrückenden deutschen Einheit, war klar, dass die deutsche Seite nun darüber im Bilde war, dass sich in Graignes eine größere Anzahl Amerikaner gesammelt haben musste.

Am Nachmittag des 10. Juni näherten sich drei Deutsche auf einem Motorradbeiwagen- gespann, offenbar eine Aufklärungspatroullie eines größeren deutschen Kampfverban- des, dem amerikanischen Verteidigungsperimeter. Auf kurze Entfernung eröffneten die Fallschirmjäger das Feuer auf die ahnungslosen Deutschen, keiner der deutschen Aufklärer überlebte. Anhand der Papiere der Gefallenen stellte man fest, dass sie Angehörige der 17. SS-Pz.Gren.Div. waren, ihr Marschbefehlt lautete Carentan. Am Morgen des Sonntag, 11. Juni, blieb zunächst alles ruhig, Major Johnston erlaubte daraufhin einigen seiner Männer, die Sonntagsmesse in der Kirche von Graignes zu besuchen. Während der Messe stürzte plötzlich eine Frau in die Kirche und warnte die Kirchgänger vor dem Herannahen der Deutschen. Kurz darauf erfolgte ein erster, ziemlich unkoordinierter Angriff schwacher deutscher Kräfte, der von den US-Fallschirmjägern abgewehrt werden konnte.

Gegen 14:00 wurde der Ort plötzlich von Mörsern beschossen, ein zweiter Angriff folgte unmittelbar darauf. Dieses Mal gelang es den deutschen Grenadieren beinahe, in den Ort einzudringen, aber eine schnelle Verlagerung der von Lieutenant Reed geführten MG-Trupps verhinderte den Durchbruch in letzter Minute. Am Abend drang Motorenlärm von schweren Fahrzeugen zu den eingeschlossenen Amerikanern, da nun offenbar ein weiterer schwerer Angriff bevorstand, wurden die französischen Zivilisten aufgefordert, den Ort zu verlassen.

Gegen 19:00 eröffneten zwei 8,8 cm Flakgeschütze das Feuer von einer Anhöhe bei Thieuville, der Beschuss forderte zahlreiche Opfer, Major Johnston wurde getötet. Da durch den Artilleriebeschuss auch der Kirchturm, der den Amerikanern als Aussichtsplattform und Leitzentrale für die eigenen Mörserabteilung diente, zerstört wurde, konnten diese nun die Bewegungen der deutschen Grenadiere nicht mehr beobachten, damit konnte auch das eigene Mörserfeuer nicht mehr gelenkt werden. In der Nacht erfolgte ein weiterer Angriff, zu diesem Zeitpunkt waren die Linien der Amerikaner jedoch schon so ausgedünnt, dass der Durchbruch erfolgte. Einige isolierte Gruppen lieferten sich im Ort heftige Gefechte mit den Deutschen. Da jedoch nun nach den stundenlangen Gefechten die Munitionsvorräte zur Neige gingen befahl Captain Brummit, der nach dem Tod von Major Johnston das Kom- mando übernommen hatte, den Überlebenden, sich durch das Sumpfgebiet in Richtung Carentan oder gar St-Mère-Église abzusetzen.

Bei den Kämpfen um Graignes soll angeblich ein ganzes Grenadier-Regiment der 17. SS-Pz.Gren.-Div. beteiligt gewesen sein, sodass das Kräfteverhältnis in etwa 10:1 zu Gun- sten der Deutschen stand. Dennoch sollen die 182 US-Fallschirmjäger eigenen Angaben nach angeblich 500 Deutsche getötet und weitere 700 verwundet haben, die genannte Höhe der deutschen Verluste erscheint jedoch völlig überzogen, da im Kriegstagebuch der 17. SS-Pz.Gren.-Div. bis zum 15. Juni "nur" 79 Gefallene, 316 Verwundete und 61 Vermisste genannt sind. Da sich zu diesem Zeitpunkt bereits auch der Angriff des SS-Pz.Gren.Regt. 37 auf Carentan ereignet hatte, welcher ebenfalls mit Verlusten für die SS-Grenadiere verbunden war, dürfte die Zahl der bei Graignes erlittenen Ausfälle der SS-Division nur einen Bruchteil der von den Amerikanern angegebenen Zahlen betragen haben.

Am Ende des Kampfes am 11. Juni stürmten einige deutsche Grenadiere die Kirche, in der die Amerikaner ihren Verbandsplatz eingerichtet hatten. Captain Sophian, der verant- wortliche Arzt, zwei Sanitätsgefreite sowie alle Verwundeten wurden in zwei Gruppen aufgeteilt, von der Kirche weggeführt und anschließend erschossen oder erstochen. Andere Grenadiere durchsuchten den Ort nach französischen Einwohnern. 44 Menschen wurden schließlich zusammen getrieben, ihnen wurde vorgeworfen, die Amerikaner unterstützt zu haben. Trotz langer Verhöre konnten die deutschen Offiziere keine Einzelheiten aus den Franzosen herauspressen, kein Bewohner bezichtigte den anderen und so wurden die 44 Franzosen in Richtung des circa 2 Km südwestlich von Graignes gelegenen Le Haut Vernay verschleppt, wo sie bei der Bergung der gefallenen Deutschen helfen mussten.

Vier Zivilisten wurden jedoch in der Kirche bzw. dem anschließenden Pfarrhaus erschossen, die beiden Geistlichen Albert Leblastier und Charles Lebarbanchon sowie ihre Haus- angestellten Eugenie DuJardin und Paulette Pezeril.

Am folgenden Tag, Montag, 13. Juni, zündeten die Deutschen den Ort an, die Leichname von  Pater Leblastier, Pater Lebarbanchon, Eugenie DuJardin und Madeleine Pezeril wurden ebenfalls mit Benzin übergossen und angesteckt. Das Feuer geriet schnell außer Kontrolle und weitete sich unbarmherzig aus, von den circa 200 Gebäuden Graignes waren am Ende 66 völlig zerstört, 139 teilweise zerstört und nur zwei unbeschädigt geblieben.

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die meisten US-Fallschirmjäger abgesetzt, in kleinen Gruppen trafen sie in der Nacht des 12. Juni in Carentan ein, das gerade von der 101st Airborne Division eingenommen worden war. 21 Amerikaner, die von den beiden Mädchen Marthe und Odette Rigault mehrere Tage in der Scheune der Familie Rigault versteckt worden waren, gelang es unter Führung von Joseph Folliot Carentan in der Nacht zum 16. Juni zu erreichen. Insgesamt gelang es 150 der ursprünglich 182 Fallschirmjäger, sich in Sicherheit zu bringen.

US-Militärhistoriker vertreten die Meinung, dass die in Graignes kämpfenden 182 US-Fallschirmjäger den Gegenangriff der 17. SS-Pz.Gren.-Div. auf Carentan entscheidend verzögerten, sodass die 101st Airborne Division Carentan gerade noch rechtzeitig vor dem Eintreffen der deutschen Panzergrenadiere besetzen konnten. Graignes wurde erst am 12. Juli durch Einheiten der 113th Cavalry Group befreit.

Einer Quelle nach handelte es sich bei der Einheit, die in Graignes wütete, angeblich um das II. Bataillon, SS-Panzergrenadier-Regiment 38 unter SS-Sturmbannführer Karl Heinz Nieschlag ("Murderous Elite: The Waffen-SS and its complete record of war crimes" by James Pontolillo, Seiten 58-59).

40 Jahre nach diesen Ereignissen kehrten einige der Fallschrimjäger, darunter  Lieutenant Naughton, nach Graignes zurück und trafen unter anderen auch die beiden dort noch immer wohnenden Rigauld Töchter, die sie im Sommer 1944 in ihrer Scheune versteckt, versorgt und ihnen anschließend zur Flucht verholfen hatten. Tief beindruckt von dieser Begegnung kehrte Naughton in die USA zurück und beschloss, dafür zu sorgen, dass mehrere noch lebende Einwohner von Graignes, darunter auch Marthe und Odette, eine offizielle Anerkennung und Würdigung durch die US-Army erhalten sollten. Zwei Jahre später, am 6. Juli 1986, war es soweit. In der Kirchenruine von Graignes wurde eine offizielle Zeremonie abgehalten, in dessen Verlauf 11 Einwohner von Graignes mit dem "Award for Distinguished Civilian Service", dem höchsten Orden des US-Department for Defense für Zivilisten, ausgezeichnet wurden. 6 dieser Auszeichnungen erfolgten posthum.

In der Ruine der Kirche von Graignes erinnert eine große Gedenktafel an 31 getötete Fall- schirmjäger, darunter 24 vermutlich exekutierte Männer, sowie an die 32 Zivilisten, die während der Kämpfe ihr Leben verloren oder von den deutschen Truppen nach der Eroberung Graignes erschossen wurden. Drei der getöteten Fallschirmjäger dienten in den Reihen des 501st PIR, 101st Airborne Division: Private William H. Love, T/4 Roy M. Callahan und Captain Loyal K. Bogart. Die Ruine der Kirche wurde bereits 1949 als Gedenkstätte eingeweiht (GPS N49° 14' 39.332" W1° 12' 21.2"). Neben dem Friedhof beschreibt eine Normandie Terre Liberté Stele die Vorgänge im Juni 1944. Im Ort erinnert eine Stele an das 507th Parachute Infantry Regiment (GPS N49° 14' 28.666" W1° 12' 8.395").

Auf Youtube befindet sich eine interessante Dokumentation zu den Vorgängen um Graignes, sehenswert: D-Day-Das Massker in Graignes

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